Mutter Alheit Moll

Viele Leute sagen, es sei ein Segen, ein hohes Alter zu erreichen, doch vielleicht ist so mancher, der wirklich alt ist, anderer Meinung. Es ist schon so lange her, dass ein Kind geboren wurde, das den Namen Alheit Moll bekam, dass sich die Trägerin des Namens selbst nicht daran erinnern kann. Sie hat alle Ihre Freunde und Familienmitglieder überlebt und manchmal stimmt sie das traurig. Doch dann sieht sie sich um und ist nicht zu unrecht stolz darauf, was sie in ihrem Leben mit bescheidenen Mitteln alles erreicht hat. Wenn sie jedoch versucht, sich daran zu erinnern, wie alles begann wird es schwierig, denn das verschwindet zunehmend im Nebel der Zeit.
Also bat sie mich, einen einfachen Schreiber aus der tuchenen Stadt ihre Geschichte aufzuschreiben. Als ich sie fragte, warum ein Solane ihre Geschichte schreiben soll und nicht ein Trumer, meinte sie mit einem spitzbübischen Lächeln „Weil wir alle Menschen sind und das gleiche Ziel haben“. Glaubt mir, Ihr, die Ihr dies lest, diese alte Dame ist durchaus in der Lage, ihre alten trüben Augen mit Schalk blitzen zu lassen.

Sie verhehlt auch nicht, dass sie immer noch große Freude daran hat, wenn ihr Gerüchte aus dem Wiedener Herold vorgelesen werden, denn wie sie sagt „Da weiß ich, dass das Unsinn ist, im Gegensatz zu manch anderen Geschichten“. Das sagt so einiges über den scharfen Verstand der alten Dame aus, die, wann auch immer sie zu dem Eynen gehen wird, an den die Ceriden unter den Trumern glauben, ein großes Loch in den Herzen hinterlassen wird. Daher sollt ihr hier nun ihre Geschichte erfahren. Fast zehn Dekaden ist es nun her, dass das Mädchen Alheit Moll auf einem reichen Bauernhof geboren wurde.
Er war nicht reich an Silber oder Gold, doch reich an Mitgefühl, an Liebe und Glauben. Aber auch materiell stand es zumindest nicht schlecht um die Familie Moll. Doch eines machte den Eltern Moll Sorgen. Es wollte sich einfach kein männlicher Nachwuchs einstellen. Auch wenn alle Töchter innig geliebt wurden, so musste doch, nach den Gesetzten des Landes, ein Sohn den Hof und die Ländereien erben oder sie würden an den reichsten Bauern im Dorf fallen. Die einzige andere Möglichkeit war eine Hochzeit, die auch dazu führen würde, dass die anderen Töchter ihr Erbe und ihren Unterhalt verlieren würden. Doch zu dem Beginn unserer Geschichte war dies noch in weiter Ferne, denn Alheit Moll war noch ein kleines Mädchen, als sie ihre Bestimmung erfahren sollte.

Eines Tages brach das Hardemundter Blutstrichfieber aus, und viele Menschen aus dem kleinen Dorf erkrankten, etliche starben. Auch die kleine Alheit erkrankte, überlebte jedoch, drei ihrer Schwestern verstarben allerdings, ebenso wie viele andere alte und schwache aus dem Dorf und dem ganzen Landstrich. Das Hardemundter Blutstrichfieber bricht immer wieder aus, es wütet fürchterlich, obwohl es doch eigentlich einfach zu heilen ist, wenn es denn früh genug erkannt wird. Einfache Kräuter aus dem Küchengarten der Molls, richtig zusammen gemischt, hätten viele Leben retten können. Dies erfuhren die leid geprüften Bewohner von Alheits Dorf, als ein Kräuterkundiger das Dorf erreichte, leider zu spät, um noch viele Leben zu retten.
Alheit Moll schwor sich und dem Eynen der Ceriden damals, trotz ihrer jungen Jahre, dass niemals wieder Menschen aus Unwissenheit sterben sollten, vor allem, wenn die Heilung so einfach war. Sie bat den Kräuterkundigen, sie als Lehrling zu nehmen, doch dieser lehnte ab, denn er konnte und wollte sich nicht mit einem kleinen Kind belasten. Als er weiterzog, beschloss Alheit das Lesen und Schreiben zu lernen, koste es, was es wolle, und dieses Wissen dazu zu nutzen, anderen zu helfen. In ihrer kindlichen Natur war sie sich nicht über die Tragweite ihres Entschlusses bewusst, doch selbst als sie erfuhr, welche Schwierigkeiten sie überwinden musste, hielt sie daran fest, unerschütterlich und stark im Glauben.
Schweren Herzens unterstützten ihre Eltern sie, sahen sie doch, dass das Mädchen sich nicht abbringen ließ und mit einem schon fast unnatürlichen Eifer bei der Sache war. So lernte Alheit alles in Ihren Dorf, was es für sie über Kräuter zu lernen gab und zog als knospendes Mädchen aus ihrer Heimat nach Gerberg, um dem dortigen Ceridischen Orden zur heiligen Lucretia beizutreten. Man hieß sie dort willkommen und lehrte sie bereitwillig alles, was es zu lehren gab. Denn der von Frauen geführte Orden, der sich hauptsächlich um Kunst und Wissen bemüht, teilt dieses Wissen mit jedem, der ernsthaft interessiert ist. Alheit Moll erfuhr so nicht nur viel über Heilkunde, Kräuter, die Versorgung von Verletzten, sondern auch darüber, was Menschen einander antun können aus den nichtigsten Gründen. Schließlich versorgten sie und die anderen Lucretianerinnen immer wieder Menschen, die sich nicht nur auf dem Feld oder bei der Arbeit verletzt hatten.
Die Zeit ging ins Land und Alheit Moll war schon lange im Heiratsfähigen Alter, als sie und andere ihres Ordens nach Großenbrück gerufen wurden, um zu helfen, dort dem Orden zur heiligen Lucretia ein neues Heim zu schaffen. Der Aufbau eines Ordens ist äußerst mühsam, doch die Lucretianerinnen ertrugen alles ohne zu klagen und verdienten sich so den Respekt aller, selbst des Fürsten Aribert Hengst von Wilgau.

Daher stimmte dieser auch zu, als die Lucretianerinnen die höfliche Bitte vortrugen, ein Hospiz bauen zu dürfen, in dem alle Kranken versorgt werden konnten und das unentgeltlich. Die Spenden der Bevölkerung, der Verwandten der Kranken oder der Kranken selbst sollten für den Unterhalt sorgen. Fürst Aribert sollte nur eingreifen, wenn es um den Schutz oder um mangelnde Finanzen ging. Auf Grund des guten Rufs der selbstlosen Lucretianerinnen und weil er die Möglichkeit sah, die Gesundheit des Volkes zu verbessern, nicht zuletzt auch weil die Lucretianerinnen im Einklang mit dem Eynen handelten, versprach der Fürst seine volle Unterstützung. Jahre gingen ins Land und irgendwann wurde Alheit Moll zur Äbtissin gewählt. Sie war eine der jüngsten Äbtissinnen, doch mittlerweile ist sie schon so lange in diesem hochgeschätzten Amt, das selbst altgediente Lucretianerinnen sich nicht an eine andere Äbtissin erinnern können. Alheit Moll geht völlig auf in ihrer Tätigkeit, sie bildet selbst in ihrem hohen Alter noch Heilerinnen aus, bringt anderen das Lesen und Schreiben bei, sogar dann wenn diese offen erklären, nicht an den Eynen zu glauben, doch gute Absichten haben. Denn obwohl Mutter Moll sehr gläubig ist und deshalb auch die Magie, wie sie in anderen Landen praktiziert wird, strikt ablehnt, zwingt sie niemanden, ihren Glauben an Eynen zu teilen.

Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb, lässt sie es sich auch nicht nehmen, ungeachtet ihres hohen Ansehens bei den oberen und den unteren der Bevölkerung um das Leben von verurteilten Mördern zu bitten. Das gilt sogar für Solanen, auch wenn diese Mitschuld tragen an dem Tod von Trumern. Wo sonst trifft man auf solche Selbstlosigkeit? Mutter Alheit Moll kam zu einer Gerichtsverhandlung und bat auf Knien im Namen des Eynen um die Leben der Verurteilten, doch obschon die Richter tief beeindruckt waren, mussten sie der alten Dame diesen Wunsch abschlagen. Dennoch ist Mutter Moll, wie sie liebevoll genannt wird, nicht verbittert und hilft weiterhin allen, die Hilfe brauchen. Da allerdings Ihre Augen nicht mehr die besten sind, lässt sie sich die Neuigkeiten des Wiedener Herolds mittlerweile vorlesen und schickt andere in ihrem Namen auf Reisen, auch wenn diese nicht unbedingt immer zu dem Orden zur heiligen Lucretia gehören.

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