Buchhaltung zum Winterfest

Lange schon starrt Gisbrecht auf den Bericht vor ihm auf dem Schreibpult und zögert immer noch den Weg zum Baron anzutreten. Wie soll er seiner Gnaden auch diese erschreckende Auflistung geschädigter Häuser, Einrichtungen, Güter überbringen. Ganz zu schweigen von den umgekommenen Arbeitern, Bürgern, Bütteln und sogar Gelbröcken. Nein, dieser Bericht wird seinen Herrn sehr schwer treffen. Aber schließlich ist er ja Gisbrecht von Untsdorf, Verweser auf Siebenhöfen und es ist seine Pflicht dem Baron eine peinlich genaue Auflistung aller Schäden der verfluchten Nacht zum Winterfest zu geben. Auch wenn es ihn sträubt, diesem noch mehr Last aufzubürden als er ohnehin schon tragen muss.

Dabei hat der gute Herr Ortwin doch schon mehr als genug gelitten. Höchstselbst zog der Baron in jener Nacht Verletzte aus brennenden Trümmern und scherte sich nicht um sich selbst. Sogar als ihm der mittlerweile wieder schmückende blonde Schopf feuers vom Haupt gesengt wurde ließ er nicht ab.
Das Ordnen des Chaos in der brennenden Nacht, die schnelle Unterstützung am folgenden aschgrauen und fleischroten Tag. Ja, auch die Ansprachen bei Gilden, Bürgern, in der Tuchenen, der Kirche und im Konvent in den letzten Tagen. Die Messen für die Toten (das Schlimmste woran sich Gisbrecht erinnert), all das lastete bereits auf seiner Gnaden Gemüt. Und nun noch DIESER Bericht.
Gisbrecht ist froh, nichts über die Stunden zu wissen, die sein Herr mit den Inspektoren im Klageturm zugebracht hat. Die Befragung der inhaftierten Verdächtigen der flammenden Nacht ist sicher alles Andere als erstrebenswert, zumal der Turm sogar von dutzenden Gelbröcken bewacht wird. Es ist zu befürchten, dass die aufgebrachten Bürger die Insassen lynchen würden. Auch die Kirche hat alle Hände voll zu tun den gerechten Zorn des Volkes im Zaum zu halten und die jetzt garnicht so sanften Schäfchen vom wilden, unbewiesenen Anschuldigungen abzuhalten. Obwohl der hastige Auszug der Leute von Champa, die festgenommenen Götzendiener des Sonnenglaubens und die brennende Sonne hinter dem Flaggschiff des Champabarons eine mehr als deutliche Sprache sprechen. Aber halt! Er schweift ab!

Gisbrecht atmet tief durch, strafft sich, nimmt den Bericht und macht sich auf zu den Arbeitsräumen seines Herrn. Dessen deutliche Schatten unter den übermüdeten Augen erschrecken ihn wieder. Ohne langes Vorgeplänkel fängt er mit schwerem Kloß im Hals an vorzutragen:

  • tote oder vermisste ordentliche Bürger: 163 (davon 16 Kriegsknechte bei Hilfseinsätzen)
  • tote oder vermisste Einwohner aus der Tuchenen: 87
  • tote oder vermisste fremde Hilfskräfte am Bau/Retter/Heiler/Besucher: 114
  • Kathedrale: zerstört
  • Bauhütte samt Nebengebäuden: zerstört
  • Bürgerhäuser “am Singerplatz”: 11 zerstört, 28 beschädigt
  • Bürgerhäuser entlang “Westhofstraße”: 2 zerstört, 21 beschädigt
  • Bürgerhäuser entlang “zum Südhafen”: 4 zerstört, 3 beschädigt
  • Bürgerhäuser “am Schuhmarkt”: keines zerstört, 12 beschädigt
  • Lazarett “Heiliger Hilarius am Lindenpark”: zerstört

Baron Ortwin unterbricht den immer leiser werdenden Gisbrecht und legt diesem eine Hand auf die Schulter. “Es ist gut Gisbrecht.” Mit sanfter und leicht bebender Stimme fährt er fort. “Den Rest gehe ich allein durch. Bitte geh jetzt.” Gisbrecht steigt das Wasser in die Augen und nur mit Mühe kann er das Schluchzen unterdrücken und seinem Herrn Ortwin ins frisch von Feuer gezeichnete Antlitz blicken. Er sieht Tränen. Und etwas Anderes. Die beiden so unterschiedlichen Männer verstehen sich in diesem Augenblick und ohne weitere Worte verlässt Gisbrecht den Raum. Vor der Tür muss er sich kurz sammeln und Gedanken wie Rock ordnen. Zwar hatte er es befürchtet denn, wie er nur allzugut weiß, hat seiner Gnaden ALLES Machbare getan und gegeben, Siebenhöfen zu dem zu machen was es jetzt ist…oder bis vor ein paar Tagen war.

Nein! Es ist nicht rechtens! Es ist nicht richtig! All dieses Leid über die Stadt und Herrn Ortwin zu bringen kann nicht richtig sein! Gerade als Gisbrecht, sich nun wieder grob gefangen, anschickt mit seiner üblichen strengen Miene zum Tagwerk überzugehen, hört er hinter der eben geschlossenen Türe heftiges Gerumpel und schweres Glas bersten.

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